Social Media hat überwältigenden Einfluss auf Kaufentscheidungen. Oder nicht? Wir haben eine Zahl aus dem Social-Media-Universum aufgespießt: die 93.
Haben Sie heute Morgen ein Brötchen gekauft? Einen Kaffee? Eine Apfeltasche? Herzlichen Glückwunsch – ihre Entscheidung war von Social Media beeinflusst. Glauben Sie nicht? Wir auch nicht. Aber damit sind wir die Ausnahme.
Erik Qualman, offenbar einer der ganz Großen in der Welt der Social Media, hat im April 2014 ein Video auf Youtube hochgeladen. Das (sehr schön gemachte) Video "Socialnomics 2014" wurde 100.000-mal angesehen und wartet wieder einmal mit imposanten Zahlen aus der Welt, aber insbesondere auch aus dem Internet und Social Media auf. Darin wird behauptet: "93 % of shoppers' buying decisions are influenced by social media". Also frei übersetzt: 93 Prozent der Kaufentscheidungen werden durch Social Media beeinflusst. Bitte denken Sie doch nochmal über Ihren Kaffee nach.
Vermutlich ist diese Aussage eher plakativ gemeint, aber das Traurige ist, dass solche Zahlen bereitwillig aufgenommen werden und sich epidemisch (und ungeprüft) im Internet verbreiten. Auf der Suche nach der Quelle wird man lapidar auf das "neue" Buch von Herrn Qualman verwiesen. Die erste Ausgabe stammt von 2009, die Neuauflage von 2012. Das heißt dann aber auch, dass eine kritische Prüfung oder eine Interpretation der Aussage nur schwer möglich ist. Der Fantasie sind damit keine Grenzen gesetzt. Das ist wahrscheinlich auch die Intention: Die Zahl wirkt dramatisch, beeindruckend. Und unreflektiert.
Aus unserer Sicht sind die "bereits (!) sechs (!) Prozent der deutschen Kunden, die ihre Kaufentscheidungen von Informationen aus sozialen Medien abhängig machen" sehr viel glaubwürdiger (Roland Berger Strategies, Wer teilt, gewinnt – wie Digitalisierung und Social Media unsere Unternehmen verändern, Juli 2014). Roland Berger gibt an, dass die Aussagen in ihrem Report konsolidierte Arbeitsergebnisse von 100 Wissenschaftlern und Unternehmensvertretern sind. So ganz kann sich aber auch dieser Report dem Zauber der "dramatischen Entscheidungsbeeinflussung" nicht entziehen:
Die präzise Formulierung "in irgendeiner Weise sozial beeinflusst" und die fehlende Quellenangabe lassen auch hier breiten Ermessensspielraum. Was nun? Ohne Quellen und die damit verbundene genauere Kenntnis, wie die Zahlen gewonnen wurden, bleiben das unüberprüfbare Behauptungen. Eine Anfrage nach der Quelle ist bislang nicht beantwortet.
Die Realität freilich sieht anders aus: US-Untersuchungen zeigen, dass Social-Media-induzierte Verkäufe am Black Friday nie über 1 Prozent herauskamen. Einzelhändler schließen ihre Facebook-Shops. Nur ein Prozent des Verkehrs in Onlineshops kommt aus Social Media, so eine Studie von the e-tailing-Group (endlich mal eine Quelle!).
Jetzt sind Sie dran: Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie den Widerspruch auflösen können. Oder zu welcher Seite Sie tendieren. Und warum. Gerne als Kommentar. Aber kommen Sie uns bitte nicht mit kulturellen Unterschiede wie die in der iCloud abgelegten Nacktselfies beweisen. Vielleicht bleibt es dabei, dass die 93 Prozent – um im Bild zu bleiben – sehr freizügig interpretiert wurden.